Pinargenti: Plan von Venedig, 1573
Die historische Entwicklung prägt das Erscheinungsbild einer Stadt.
Venedig besteht bereits seit mehr als 1000 Jahren. Die Bewohner des Veneto flohen vor den Goten und suchten Schutz auf den gut zu verteidigenden Inseln. Sie waren Verbannte, vertrieben aus ihren Städten oder von ihren eigenen Gehöften, auf der Flucht vor den plündernden Stämmen des Nordens und des Ostens. Venedig bot sich als sicherer Hafen für Verbannte und heimatlos Umherziehende an. Es war eine offene Stadt, die bereitwillig alle aufnahm, die ihre Grenzen überquerten. Obwohl die Lagune nicht weit von den ehemaligen großen Zentren entfernt lag, war sie doch entlegen und abgeschieden. Die Venezianer sahen ihre Stadt zu jeder Zeit als bedroht. Auf einer Insel zu leben, heißt unabhängig, aber auch »isoliert« zu sein. Die ungewöhnliche Lage Venedigs zwang die Einwohner dazu, eine neue Lebensweise zu ersinnen.
»Die Not lehrte sie, ihre Sicherheit in der unvorteilhaftesten Lage suchen, die ihnen nachher so vorteilhaft ward und sie klug machte, als noch die ganze nördliche Welt im Düsteren gefangen lag, ihre Vermehrung,
ihr Reichtum war die Folge.«
Johann Wolfgang von Goethe
Der begrenzte Lebensraum begünstigt die intensive Interaktion zwischen den handeln-den Personen. Aus dem Kampf gegen das Meer, ergab sich die Notwendigkeit für ein gemein-schaftliches Denken und Handeln. Es bestand kein Konflikt zwischen Individuum und Kollektiv, es war vielmehr so, dass sich das venezianische Individuum zu jeder Zeit in den Gesamtorganismus einfügte. Es ist ein Organis-mus, der, wie jener des Menschen, als Einheit gesehen werden kann. Jeder Aspekt der venezianischen Kultur und Gesellschaft reflektiert das Ganze. Sie mussten unablässig schwere Arbeit verrichten und hätten ohne ein hohes Maß an Energie und Optimismus nicht erfolgreich zu bestehen vermocht. Deshalb sind die Venezianer auch stolz auf ihre Stadt.
Venedig besteht aus 117 einzelnen Inseln, die mit viel Anstrengung und Mühe nach und nach miteinander verbunden wurden. Der Grundriss der Stadt wurde zu einer Metapher für Ordnung und Pracht. Die Lagune selbst ist von ihrer Natur her uneindeutig weder Land noch Wasser. Die Venezianer besaßen kein einziges Ackerland, sie waren daher gezwungen, sich ihren Lebensunterhalt durch den Handel mit und durch die Herstellung von Waren zu verdienen. Wäre Venedig nicht von Wasser umgeben, wäre es schon vor Jahrhunderten zerstört worden.
Jede andere Stadt auf der Welt hatte irgendwann ihre Freiheiten verloren, doch Venedig musste nie unter einem Unterdrücker leiden.
Der Markuslöwe ist das Symbol des Evange-listen Markus, in Abbildungen des Evangelisten ist er sein Attribut, er war das Symbol der Republik Venedig und heute der Stadt Venedig.
»Vergangenheit kann nicht mehr verändert, verbessert oder repariert werden, und sie weiß auch nichts von allen späteren Anstrengungen, sie zu kommentieren. Es sei denn, man verwan-delt sie in Geschichte, und das heißt, in form-, knet- und veränderbare Erzählungen mit Rückkopplungsschleife, in der auch die Erzähler des Vergangenen und ihr Publikum einen Platz finden können, nachträglich. Das Erlebnis der NOCH sichtbaren Vergangenheit, dem man nachreist, ist gerahmt mit stillen, aber umso wirksameren Drohungen von Versäumen und Verschwinden.« Prof. Dr. Valentin Groebner
Geschichte ist zwar vergangen, gleichzeitig aber erscheint sie als etwas, das eine Person, eine Institution, ein Gegenstand oder ein Gebäude 'hat', als etwas, das immer noch gegenwärtig ist und in das man 'eintauchen' kann. Vergangenheit ist unwiderruflich vorbei. Geschichte dagegen ist die Darstellung dieses Abwesenden. Sie muss erzählt und präsentiert werden. Jede Erzählung verändert das Material, das sie präsentiert.
Jacques Callot: Pantalone, Figur aus der italienischen Commedia dell'arte
Als Profiteure ihres Rufs, konzentrierte sich die Stadt darauf, durch Steigerung der Expressivi-tät Wirkung zu erzielen. »Nie erschien eine Stadt so traumgleich und unwirklich.« Die Stadt wurde zu einer Projektionsfläche für vielfältiger Imaginationen. Der Übergang zwischen Illusion und Realität, zwischen Schein und Sein wurde fließend.
In der venezianischen Kultur gab es keine Trennung zwischen Religion und Politik. Venedig war die Stadt, von der aus die Pilger ins Heilige Land aufbrachen. Es zeigte sich eine Verschmelzung von Frömmigkeit und religiöser Verehrung des Ortes Venedig. Der Boden war heilig, auf wunderbare Weise vor den Wassern der Welt errettet. Die Einwohner Venedigs sahen sich als Teil dieses Bodens.
Venedig – Lagunenstadt
Heimat der Vertriebenen – Fossil aus einer vergangenen Welt
Die Fische aus den Kanälen wurden nicht verzehrt. Das wäre so gewesen, als ob man Ratten äße. Venedig konnte, da es vom Meer umgeben war, nicht über seine Grenzen hinaus wachsen. Es konnte sich aber vergrößern und seinen Reichtum mehren, indem es sein Herrschafts-gebiet um andere Länder uns Städte erwei-terte. Es konnte zu einem Imperium werden. Das Wesen des Handels beruht auf fortwähren-der Expansion. Auf dem Höhepunkt seiner Macht war Venedig der drittgrößte Staat Europas. Kommerzielles Eigeninteresse wurde ein Hauptfundament der nationalen Ideologie. Venedig fasste den Entschluss, sich das Mono-pol für die Versorgung des Festlands mit Salz zu sichern. Mit Gewalt und durch Eroberungen brachte man zuerst die anderen Zentren der Salzgewinnung in den umgebenden Regionen an sich. Jede sich regende Konkurrenz wurde im Keim erstickt. Venedig wurde zum »Marktplatz der Welt« und um 1500 ein Zentrum der Weltwirtschaft, zu einer Handels-stadt in reinster Ausprägung, ein ultimativer Basar.
Religiöser Schrein, Venedig – Die Allgegenwart religiöser Abbildungen bildet einen wirkungs-vollen Kontrapunkt zur Zeichenwelt des Konsums. Die eng miteinander verschweißte Gemeinde von Venedig übte eine scharfe Kontrolle über die Gelüste der Bürger aus.