„Die Menschheitsgeschichte umfasst 800 Lebens-spannen zu je 62 Jahren. Davon haben wir 650 Lebensspannen in Höhlen verbracht. Seit 70 Lebensspannen kennen wir die Schrift. Gedruckte Bücher nutzen wir seit etwas mehr als 7 Lebens-spannen. Und analoges Fernsehen hat nicht einmal eine Lebensspanne überdauert.
Inwieweit hat jedoch der ‚durchschlagende’ Erfolg des Fernsehens unser Verhältnis zur Schrift, und damit auch unsere Art und Weise, Information zu verarbeiten, zu speichern und weiterzugeben verändert? Wodurch unterscheidet sich das analoge Fernsehen von anderen Medien?
Gesprochene Worte verfliegen. Schrift ist entstanden um Worte zu konservieren. Auf dem Bildschirm wurde Schrift wieder so flüchtig wie das gesprochene Wort. Klassisches Fernsehen bietet sich uns nicht als Informationsspeicher dar. Fernsehen ist vielleicht auch deshalb ein adäquates Medium unserer Zeit, da Vergänglichkeit sich auch als ein alles beherrschendes Prinzip marktwirtschaftlichen Handelns darstellt.
Ähnlich wie unsere steinzeitlichen Vorfahren, die wahrscheinlich fasziniert und träumerisch auf die flackernden Lichtspiele des Feuers starrten, sitzen heute viele Menschen Tag für Tag vor ihren Fernseh-geräten. Hier entsteht Gefühl der Gemeinschaft, hier wird Wissen weitergegeben, hier werden Geschichten erzählt, hier können wir uns aber auch gedankenlos entspannen. Fernsehen wurde zum Lagerfeuer der Moderne.
Fernsehen fesselt nicht nur unsere Aufmerksamkeit, sondern wer nichts versäumen will, muss auch vor seinem Fernsehgerät verharren. Fernsehen bringt uns ‚das Fremde’ und ‚das Neue’ nahe um es gleichsam zu neutralisieren und aufzulösen. Das Programm arbeitet wie ein Verdauungstrakt, es spaltet und zerkleinert, sortiert Informationen; verarbeitet alles, aus dem sich Aufmerksamkeitsenergie gewinnen lässt und scheidet aus was als ‚Störung’ oder als ‚bedeutungslos’ erachtet wird.
Herstellungsverfahren bestimmen die Arbeits-prozesse, die Darstellungsmöglichkeiten, die notwendigen Zeitvorläufe, die Entscheidungs-prozesse, die Denkweisen und selbstverständlich die Ergebnisse.
Ohne typografische Unterstützung ließe sich der Fluss der Bilder schwerer entziffern, Sport- und Newsprogramme würden ihre Informationsdichte verlieren. Schrift hat sich auch in Bildschirmmedien als leistungsfähige Form der Informationsvermittlung bewährt. Schriften wurden lebendig und zeigen ein ‚Verhalten’. Form und Animation bilden eine eigenständige Erzählebene. Neue kommunikative Standards und Klischees haben sich entwickelt. ..."
Flimmerkistenschrift – 50 Jahre Fernsehtypografie
TYPO Berlin 2004 | Schrift