Urbanicons

Was kann Gestaltung zur Lebensqualität eines urbanen Raums beitragen?

Vortrag auf dem Symposium Stadt.Land.Schluss, Freitag 09. Oktober 2015, Marktoberdorf

Was leistet Gestaltung? Wer bringt mit welchem Recht etwas in Form? Und wer ist dann bereit, die Verantwortung dafür zu übernehmen? Kann Gestaltung zur Lebensqualität beitragen? Kann man ein besseres Leben gestalten? Und daraus abgeleitet: Wie wollen wir eigentlich leben?

 

Warum werden manche gestalterischen Interventionen im öffentlichen Raum von der Bevölkerung begeistert aufgenommen und andere wiederum mit Ignoranz und Vandalismus bestraft? Welchen Einfluss hat Gestaltung darauf, wie Räume genutzt werden?

 

Die Begriffe Stadt und Land haben weniger zu bedeuten, als die Begriffe Zentrum und Peripherie. Zentren kann es überall geben. Ein Zentrum ist für mich ein Ort, der eine starke Wirkung auf sein Umfeld ausübt. Ein Umfeld ist nicht notgedrun-gen eine räumliche Umgebung. So es um Ideen geht, kann eine Person oder eine Personengruppe ein Zentrum bilden und jenes Umfeld, auf das diese Personen in besonderer Weise einen Einfluss haben, kann weit verstreut liegen. Im jenem Weltbild, das in unseren Medien dominiert, ist jeder sein eigens Zentrum. Erfolg haben bedeutet, sich eine Peripherie zu schaffen.

 

Jeder Mensch muss für sich zwei Fragen beantworten: Was erwarte ich mir vom Leben und welche Rolle möchte ich im Leben anderer Menschen spielen? Welche Position wollen wir in jenen Zusammenhängen einnehmen, die wir als Realität wahrnehmen? Wie verorten wir uns in der Welt?

 

Bilder sind immer Vereinfachungen. Alles ist Netzwerk, komplex und interde-pendent. Zentrum ist immer Illusion. Wir können versuchen unsere Verbindungen zu kappen und uns isolieren. Aber weshalb sollten wir das tun? Freiheit und Individualität sind jene Lockrufe, die uns dazu verleiten unser Glück in uns selbst zu suchen. Die Bestimmung der eigenen Rolle erfolgte lange im Zusammenspiel mit jener Familie, in die wir hineingeboren wurden. Die Frage, was wir mit unserem Leben anfangen wollen und welche Bedeutung wir für das Leben anderer haben, stellte sich innerhalb einer Sippe nur in einem engen Rahmen. Wer den Rollenvorstellungen nicht entsprach, musste im schlimmsten Fall sogar damit rechnen vom Beil des Henkers geküsst zu werden.

 

Die Stadt versprach demgegenüber ein größere Anonymität und Unabhängigkeit. Hier konnte man, in einem gewissen Rahmen, versuchen seine Identität selbst zu finden, seine Rolle selbst zu bestimmen. In der Stadt, so der Lockruf, wartet das Glück in Form einer größeren Auswahl an Beschäftigungsmöglichkeiten und an möglichen Bezugspersonen. Wenn viele Menschen selbst Entscheidungen über ihr Leben fällen dürfen, dann wird die Zukunft ungewiss. Sobald sich Selbstverständ-lichkeiten verflüchtigen, entstehen Freiräume für die Realisierungsversuche neuer Ideen. Diese Flexibilisierung des Zusammenlebens hat gewaltige technische und damit verbunden gesellschaftliche Entwicklungen möglich gemacht. Die Stadt wurde zu einem Sinnbild, einer Projektionsfläche für Hoffnungen und Ängste und dadurch zu einem offenen Raum, der deshalb auch nach Gestaltung verlangt.

 

Die klassische Gesellschafts- und Familienkonstruktion wird in der Moderne als einengend erklärt. Ihre Fesseln sollen gesprengt werden. Eine solche Freiheit muss sich pausenlos behaupten. Dazu waren und sind die wenigsten bereit. Daher konnten sich, neben einer unendlichen Vielzahl individueller Lebensziele, auch immer wieder »vorherrschende« Ideen entwickeln, die beschreiben, was ein angeblich erfolgreiches Leben bedeutet und welchen Umständen es sich verdankt. Nehmen wir nur eines dieser Modelle heraus: "Keeping up with the Joneses" – Der Lebensstandard der Nachbarn wird zur Messlatte für das eigene Glück. Es geht hierbei nicht mehr darum, welche Handlungsoptionen uns offen stehen und was wir daraus machen können, sondern vorwiegend um die Frage: sind unsere Optionen größer oder kleiner als die anderer Menschen. Die Idee von Geld als Machtoption alles Wollen zu können, wird zum Leitgedanken jeglichen Handelns. Die Option ist dabei erheblich wichtiger, als dir Realisation. Es ist, als würden wir, weil uns alle Optionen offen stehen, keine mehr ergreifen müssen. Wer handelt, greift ein und muss mit Folgen rechnen. So lernen wir an eine Zukunft zu glauben, die nie eintreten darf, damit sie nicht verschwindet.

 

Das bedeutet aber auch, dass wir Räume brauchen, in der wir diese optionale Macht zur Schau stellen und erfahrbar machen können. Einkaufsstraßen wurden zu Fußgängerzonen, um den Menschen Gelegenheit zu bieten als Darsteller und Zuschauer aufeinander zu treffen. Wir wollen und müssen etwas erleben. Und alle Hoffnung richten wir auf den Konsum. Er hat uns zu entschädigen. Durch ihn wollen wir zurück erhalten, worauf wir in unserem beruflichen Alltag glauben verzichten zu müssen.

 

Die Arbeitsteilung in der Geborgenheit einer familiären Struktur hat ein anderes Gesicht als in der Stadt. Leistungsfähigkeit ist in der traditionellen Gemeinschaft nicht das einzige Kriterium dafür, ob jemand dazu gehört oder ausgestoßen wird. In der Stadt bestimmt die so genannte »Anschlussfähigkeit« des je einzelnen Menschen, wie weit ihm ein Leben in der städtischen Gemeinschaft gelingt. Solange sich jemand in relativ geschlossenen Strukturen mit seiner Familie, Sippe oder Dorfgemeinschaft als solidarisch erklärt, kann er auch darauf hoffen aufgenommen zu werden und einen Platz zu erhalten. Wenn sich jemand auch noch so solidarisch mit dem herrschenden System einer Stadt zeigt, dann bedeutet dass noch nicht, dass deshalb auch ein Anspruch auf einen Platz innerhalb dieses Systems besteht.

 

Über Jahrhunderte wuchsen früher Städte in einem langsamen, kontinuierlichen Prozess, indem die Ansprüche der Menschen sukzessive Gestalt annahmen. Die Bewohner einer Stadt haben meist auch einen Raum geschaffen, der allen gleichermaßen zur Verfügung steht. Er befindet sich im Eigentum der Allgemeinheit. Es gelten deshalb dort auch jene Regeln und Gesetzte, die im Rahmen einer gemeinsamen Politik beschlossen wurden.

 

In der Stadt haben sich aber auch eine Vielzahl von Räumen entwickelt, die nur einzelnen oder bestimmten Personen zur Verfügung stehen. Der Wert dieser Orte definiert sich gerade durch die Exklusivität der Zugangsoptionen, sowie dem verschwenderischen Luxus der Ausstattung dieser Orte. Wer draußen zu bleiben hat und wer bis ins »Allerheiligste« vordringen darf, wird unter anderem durch ein umfassendes Zeichensystem geregelt. Die deutlich sichtbare Drohung, auch aus dem System herausfallen zu können, verstärkt die Bereitschaft, sich den vermeintlichen Wünschen des Systems unterzuordnen. Es gilt die Vorstellung: »Jeder hat die Chance Karriere zu machen. Wenn es jemandem nicht gelingt, dann ist er eben selber schuld und kann niemanden dafür verantwortlich machen. – Hätte er nur … dann!« Sobald wir uns an einen Anblick gewöhnen, werden die Eindrücke als Normalität wahrgenommen, als etwas, das eben so ist wie es ist, unausweichlich.

 

Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, inwieweit gestalterische Interventionen in der Lage sind, festgefahrene Vorstellungen zu relativieren. Und damit in Verbindung – wie sehr hat Gestaltung Einfluss auf das Verhalten der Menschen oder werden Formgebungen prinzipiell nur dann angenommen, wenn sie den je eigenen Vorstellungen entgegen kommen.

 

Ist somit Architektur ein Zeichensystem, mit dessen Hilfe den Menschen Handlungsräume zugewiesen werden?

 

Die Vorstellungen von privatem und öffentlichen Raum stehen in einer direkten Beziehung zueinander. So wollen auf der einen Seite immer mehr Menschen in unmittelbarer Nähe zu anderen Menschen leben, aber zugleich von diesen so unabhängig wie möglich bleiben. Wenn es den Einzelnen gelingt ein eigenes, womöglich geschütztes und umzäuntes Territorium zu erkämpfen, dann sinkt gewissermaßen auch der Bedarf an gemeinsam geteilten Handlungsflächen. Wenn jedoch der Wohnraum zur beengten Zelle wird, in der die Handlungsradien extrem eingeschränkt erscheinen, gewinnt ein zusätzlicher Aktionsraum an Bedeutung. Immer mehr Menschen bewohnen heute in Städten eine Wohnung als Singles. Die Nachfrage nach Shared Spaces – geteilten Räumen – hat deshalb in den letzten Jahren in vielen Tätigkeitsbereichen zugenommen: Sowohl im Bereich Arbeit, als auch in der Freizeitgestaltung.

 

Ob Menschen sich in die Öffentlichkeit wagen oder sich doch lieber hinter ihren vier Wänden verstecken, hat mitunter auch sehr einfache und naheliegende Gründe. Wenn es zum Beispiel an öffentlichen Toiletten mangelt, dann kann das für Menschen, die sich des öfteren von einem entsprechenden Bedürfnis angetrieben erleben, zum Problem werden. Mindestens ebenso entscheidend sind die Entwicklungen auf Basis der so genannten »Sicherheitsdiskussion«. Da das Misstrauen vor anderen Menschen ständig angeheizt wird, steigt die Forderung nach Überwachung. Oder wie Giorgio Agamben schreibt: »Ein videoüberwachter Raum ist keine Agora mehr, er verliert seinen öffentlichen Charakter, wird zu einer Grauzone zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, zwischen Gefängnis und Forum.«

 

Unsere Städte zeigen sich jedoch mit vielen Gesichtern. Sie können den Menschen sowohl als hoffnungsfroher, als auch als hoffnungsloser Ort erscheinen. Alexander Mitscherlich meint dazu: »Die Stadt muss zwei Erfahrungen erlauben: dass sie zur Gemeinschaft zwingende und zugleich individuelle Freiheit spendende und garantierende Umwelt ist. Jedes Gruppendasein zwängt auch ein und macht unfrei. Die entscheidende Frage ist nur, was das Gruppendasein für diese Beschränkungen dem Individuum zurückgibt.«

 

In der abendländischen Kultur hat sich die Idee vom verlorenen Paradies festgesetzt. Dahinter steht die Vorstellung, dass es innerhalb der Welt Orte gibt, die in besonderer Weise glücksverheißend sind, während außerhalb dieser, meist fest umrissenen Grenzen, dieser Insel der Glückseligen, das Leben sich eben mühselig gestaltet. Städte wurden mit ihren Befestigungsanlagen zu Sinnbildern dieser Vorstellungen. Kirchliche und weltliche Macht markierten unübersehbar das Zentrum solcher räumlichen Abgrenzungen. Herrschaft bedeutet hier vor allem immer auch die Vorherrschaft und Entscheidungsgewalt über jede Form der Zeichensetzung zu beanspruchen. Gerade weil diese rigiden Zeichensysteme ein einigermaßen verlässliches Zusammenleben zu garantieren versuchten, wurden sie zu den Kristallisationspunkten für eine »geordnete« Welt. So wurden diese Orte zu Marktplätzen für Waren, Dienstleistungen und Ideen aller Art. Hier lief alles aus dem jeweiligen Einzugsgebiet zusammen um sich wieder nach außen zu verteilen. Die Stadt wurde zu einem politisch geschützten Marktort, mit geteiltem Nutzen. Die »Ordnungskräfte« sicherten sich so über Steuern ihr notwendiges Kapital, die »handelnden« Personen konnten sich ihres Geschäfts einigermaßen sicher sein.

 

Damit sich dieses städtische Treiben auch entfalten kann, braucht es dementsprechende Freiräume. Damit in diesen Freiräumen nicht alles aus dem Ruder läuft, wurde seither nach Gestaltungsformen gesucht, die solche Handlungsspielräume eröffnen und gleichzeitig in bestimmter Weise wieder einschränken. Welche Ansätze hierbei erkennbar werden, wollen wir im Folgenden betrachten.

 

Städtische Paradiese durften nur über wenige Schleusen erreichbar sein. Hier wurde entschieden, wem man den  Zutritt gewährt oder verweigert. Diese Stadtmauern sind nur scheinbar verschwunden. Sicherheits-  und Zutritts-systeme, die immer öfter auf einer Nutzung biometrischer Daten aufbauen, sind allgegenwärtig und bilden einen gewaltigen Markt. Schutzwälle bestehen somit weiterhin. Daran hat sich bis heute wenig geändert, auch wenn diese Schleusen mitunter ein wenig durchlässiger geworden sind, um bestimmte Handelsströme möglich zu machen. Die für viele unüberwindlichen Grenzmauern haben sich von der Stadt an die Ränder der Länder oder der so genannten »Blöcke« verlagert. Wie gerade aktuell wieder deutlich wird: Viele dürfen sich auf diesem Planeten nicht einfach frei bewegen. Einen großen Bewegungsradius wird nur möglichst zahlungsfähigen Touristen zugestanden. Wer nichts hat als sein Leben, kann nur darauf hoffen, sich einen Platz in der Welt zu suchen.

 

Die Inseln der Seligen werden weiterhin errichtet, wie das derzeit noch im Bau befindliche Apple Headquarter von Norman Foster. Was hier entsteht, ist ein Zeichen das deutlich macht, wie die Welt sich verändert hat und was demnach Gestaltung heute bedeutet. Auch dieses Gebäude umschließt einen Paradies-garten, auch hier pulsiert ein Leben, dass auf seine Peripherie einen entscheidenden Einfluss ausübt. Der Zutritt zu diesem Paradies ist nur den Mitarbeitern von Apple gestattet. Die von Apple bespielte Peripherie ist jedoch heute der gesamte Planet und im Zentrum steht weder eine von Gott, noch eine von der Bevölkerung legitimierte Macht. Wir sind nicht mehr Bürger, sondern User.

 

In einer digital vernetzten Welt ist es nicht immer notwendig vor Ort zu sein. Immer wieder tauchen Gerüchte auf, dass die derzeit mächtigen Institutionen, wie zum Beispiel Google, versuchen würden, nach dem Vorbild von Venedig, sich auf schwimmende Inseln frei zu spielen, um kontrollieren zu können ohne selbst kontrolliert zu werden. Das Projekt erinnert mich an den Vatikanstaat. Bei aller Gegenwärtigkeit handelt es sich dabei ja nur um einen Flagshipstore einer exterritorialen Macht, die sich äußerst erfolgreich, mit Hilfe eines unendlich komplexen und allgegenwärtigen Zeichensystems, in die Welt verzweigt hat. Auf Gott haben wir keinen Einfluss, er jedoch auf uns. Diese Formen der Machtaus-übung wurden den meisten Menschen zur unhinterfragten Selbstverständlichkeit.

Macht zeigt sich nach wie vor in der Bereitschaft möglichst vieler Körper, die sich in den Dienst einer Sache stellen. Erwartungen werden durch eine entsprechende Botschaft erfüllt und wer an die Wirkungszusammenhänge glaubt, kann sich im Schoße der Gemeinschaft der Gläubigen geborgen wähnen. Gestaltung ist in diesem Zusammenhang ein Werkzeug, dass es den Menschen erleichtert ihre Position in der Welt zu bestimmen.

 

Alte Städte hatten ein Zentrum der gemeinschaftlichen Aktivitäten. Kirche und Marktplatz, Hochamt und Alltag, himmlisches und irdisches Glück bilden in vielen Orten noch ein weitestgehend geschlossenes Gesamtbild. Wie oberflächlich die Begegnungen der Menschen hier auch immer sein mögen, die Zeichensysteme bilden den Rahmen, in dem diese Form unmittelbaren Zusammentreffens stattfindet. Die Piazza ist so etwas wie das pulsierende Herz der Stadt. Hier können die Menschen sich treffen, austauschen und gegenseitig beobachten. Nicht alle können im Mittelpunkt stehen. Den einen wird Raum genommen, den anderen gegeben. Dazwischen öffnen sich Spielräume, die sich unter bestimmten Bedingungen nutzen lassen.

 

Demgegenüber wurden viele modernen Städte, wenn man so will, bewusst »herzlos« gestaltet. Der Idee der Chancengleichheit entspricht ein Straßenraster, das nicht mehr sternförmig um ein Zentrum angelegt ist. Hier steht, wie gleich-gültig, Parzelle an Parzelle. Was so entsteht, würde ich als gleichförmigen Individualismus bezeichnen. Innerhalb seiner Kapsel kann sich jeder frei entfalten, solange nichts nach außen dringt. Insofern gibt es auch nichts, was gemeinschaftlich erst verhandelt werden müsste.

 

Im Zentrum von Städten wie Atlanta in den USA befindet sich keine Agora, sondern »Downtown«. Diese Ansammlungen von Bürohochhäusern sind in ihrer Anziehungskraft jedoch nicht vergleichbar mit den Stadtzentren europäischer Städte. Sie sind nicht geschaffen um Menschen Lebensraum zu bieten. Hier werden Geschäfte gemacht, die sich von den unmittelbaren Lebensinteressen der Menschen abgekoppelt haben. Sobald es keinen Ort gibt, an dem Menschen sich gerne zueinander gesellen, bleiben sie in ihren verstreuten Parzellen. Sie kommen um zu arbeiten und ziehen hinaus in die Außenbezirke um ihr eigenes Leben zu leben. Oder sie treffen an kommerziellen Orten aufeinander. Hier werden die Handlungsspielräume jedoch von den Eigentümern definiert. Wer nicht bereit ist zu konsumieren, ist hier nicht willkommen. Im Einkaufsparadies wachen neuzeitliche »Cherubinen« über das Verhalten der Menschen und wer sich nicht fügt, wird vertrieben.

 

Alexander Mitscherlich hat einmal geschrieben: »Erst prägen Menschen die Stadt, dann prägt die Stadt ihre Menschen.« »Menschen schaffen sich in den Städten einen Lebensraum, aber auch ein Ausdrucksfeld mit Tausenden von Facetten, doch rückläufig schafft diese Stadtgestalt am sozialen Charakter der Bewohner mit.« Diese Prozesse einer gegenseitigen Prägung verlaufen jedoch mit wachsender Dynamisierung. Die Menschen haben sowohl gelernt sich anzupassen, als auch immer geschickter gegen den Strom zu schwimmen.

 

Damit Metropolen nicht einfach in eine gewaltige Ansammlung von Gebäuden zerfallen, haben etliche Stadtverwaltungen einen Raum geschaffen, der es den Bewohnern erlaubt, dennoch so etwas wie ein Gemeinschaftsgefühl zu entwickeln. So bietet zum Beispiel der Millenium Park in Chicago eine Vielzahl von Attraktionen und Betätigungsmöglichkeiten. Diese Angebote werden auch angenommen. Bedürfnisse und Gestaltung haben gewissermaßen zueinander gefunden. Gerade weil so vieles hier möglich erscheint, gerät leicht in Vergessen-heit, was sich hier verbietet. Park und Einkaufszentrum folgen dem selben Muster und Menschen werden auf die Rolle des Konsumenten reduziert.

 

Auch der Central Park in New York ist eines jener vielen Parks, die von den Menschen als »Freiräume« wahrgenommen werden. Dem Bedürfnis, sich im öffentlichen Raum selbst zu erfahren, wird hier Genüge getan. Solange gesell-schaftliche Strukturen als solche nicht in Frage gestellt werden, sind alle Formen individuellen Ausdrucks möglich und gefragt.

 

In der Welt, die Apple sich erdacht hat und die sie zu kontrollieren versuchen, geht es auch darum, sich auszudrücken und zwischenmenschlichen Beziehungen eine Form zu geben. Wenn wir die Menschen in öffentlichen Räumen heute beobach-ten, dann richten sie ihre Aufmerksamkeit tendenziell immer häufiger auf den Bildschirm ihres Smartphones, als unmittelbar auf andere Menschen in ihrer Umgebung. Die aktuelle frohe Botschaft von Apple: »Mit 3D Touch kannst du jetzt Dinge tun, die nie zuvor möglich waren. Es spürt, wie fest du auf das Display drückst. So lässt es dich besonders wichtige Dinge besonders schnell und einfach machen.« Wir haben die Welt in unserer Hand oder die Welt hat uns in der Hand. Das bleibt nicht ohne Konsequenzen, gerade für jene Räume, die wir als gemeinschaftlich geteilte Räume erachten. Wir können anderen Menschen ständig nahe sein, ohne ihnen nahe zu kommen. Wir müssen nur gefallen, uns aber nichts mehr gefallen lassen.

 

An einem  Smartphone ist gut zu erkennen, welche Rolle Gestaltung im Zusammenspiel der Menschen übernimmt. Auf der einen Seite suchen Menschen ein System, dem sie sich unterordnen können, um ihrem Leben einen Halt zu geben und dies nicht nur in der Hoffnung, dass dadurch sich die Abgründe der Handlungsfreiheit weniger bedrohlich darstellen. Durch das Bekenntnis zu einem Glaubenssystem soll auch das Verhalten der Mitmenschen berechenbarer werden. Für welches Glaubenssystem wir uns entscheiden steht uns insofern frei, als zunehmend mehr Systeme im Grunde der selben Logik folgen. Da wir aufgefordert sind, hier unser wahres Gesicht zu zeigen, erleben wir diese Räume nicht als Gefängnisse, sondern eben als Freiräume. Das Smartphone vermittelt uns ja auch das Gefühl, dass wir damit ortsunabhängig und jederzeit Befehle erteilen können, die eine wachsende Anzahl von Aktionen in der Welt auslösen. Wenn wir also die Frage stellen – kann man ein besseres Leben gestalten? – dann muss ich sagen: Ja, es ist einer Reihe von Konzernen gelungen Angebote zu machen, die von sehr vielen Menschen freudig genutzt und als eine Bereicherung des Lebens empfunden werden.

 

GestalterInnen und Gestalter von öffentlichen Räumen gehen vielfach in ähnlicher Weise vor wie die Entwickler mobiler Applikationen. Sie entwickeln eine Vorstellung davon, welche Bedürfnisse von Menschen angesprochen werden sollten, um diese zur Nutzung eines Angebots zu verleiten. In der Konkretisierung würde sich, so wird angenommen, bereits die konkrete Gebrauchsanweisung dieser Angebote verbergen und die Form solle vorhersehbare Nutzungsformen sicher stellen. In etlichen Fällen wird eine solche Funktionsdefinition offenbar auch akzeptiert und genutzt. Auch was auf einem Spielplatz herumsteht, kann als Handlungsanleitung verstanden werden. Natürlich steht es den Kindern frei, ob sie nun wippen, rutschen oder hüpfen wollen. Kinder können auch anstatt zu rutschen, das Gerät zum hinauflaufen benutzen. Nur seltsamer Weise: an einem sonnigen Tag waren die Parks in Paris voller Kinder, nur gerade ein Spielplatz mit besonders vielen Spielgeräten blieb weitestgehend leer. Was ist also los? Selbst Kinder lieben es, die Welt nach eigenen Vorstellungen zu erkunden und zu erproben. Wer selbst Kinder hat weiß, dass es einen erheblichen Aufwand bedeutet, wenn man möchte, dass sie die Geräte nur in intendierter Form benutzen. Es macht so viel mehr Spaß die Rutsche mit Steinen zu bewerfen um zu sehen, wie diese herunterrutschen, als immer nur mit dem eigenen Körper die Wirkung der Schwerkraft zu erproben. Von besonderer Beliebtheit erfreuen sich deshalb bei Jung wie Alt jene Angebote, die eine eigendefinierte Nutzung erlauben. So werden heute zum Beispiel besonders gern Grünflächen »bespielt«, die noch vor wenigen Jahren nicht genutzt werden durften. Vor allem in Parks, die in ihrer Gestaltung ehemalige Herrschaftsansprüche zum Ausdruck bringen, bereitet das Belagern und in Besitz nehmen von Zeichen der Macht offensichtlich besonderen Spaß.

 

Warum nutzen Menschen ganz offensichtlich auch gerne Orte in einer Weise, die so nicht vorgesehen war? Wenn ich mir ansehe, was, in welcher Form als Stadt-möblierung angeboten wird, dann stelle ich mir mitunter die Frage: Welche Art von Zusammentreffen hatten die Verantwortlichen im Sinn? Es scheint dann doch eher umgekehrt zu sein. Wenn Menschen sich etwas zu sagen haben und beieinander sein möchten, dann suchen sie nach einer Gelegenheit dies zu tun, und fragen nicht, ob das hier nun so vorgesehen wurde oder nicht.

 

Natürlich kann man sagen, sie sitzen am Boden oder auf Stufen, weil nicht genügend Sitzbänke vorgesehen wurden. Ob Menschen sich irgendwo treffen und niederlassen wollen scheint eben nicht unbedingt eine Frage der verfügbaren Stadtmöblierung zu sein. Zumal uns nicht wenige Stadtmöblierungen begegnen, deren Nutzungsvorschläge gewissermaßen rätselhaft erscheinen. Die Formen werden offenbar weniger gewählt, damit Menschen hier gut miteinander in Kontakt treten können, sondern dienen dem Zweck ein Ausruhen so weit wie möglich zu verhindern, um Obdachlosen keine Gelegenheit zu bieten, das Möbel als Schlafstädte zu benutzen.

 

Vor allem jungen Menschen ist es egal, ob und wo die Stadt komfortabel möbliert wurde. Um noch einmal an den Ausgangspunkt meiner Überlegungen zurück-zukehren: Es sind die Fragen der Identität, die sowohl in einem individuellen wie einem kollektiven Sinn, in den öffentlichen Raum hineingetragen werden. Jugendliche wollen sich zeigen können, um Rollen zu erproben. Sie tragen ihre Zeichenwelt gerne offen zur Schau und können so leichter zueinander finden. Ihr Outfit hilft ihnen auch jeden Ort, an dem sie sich treffen, unübersehbar zu markieren. Nachdem sie selbst expressiv auftreten, sind sie nur peripher darauf angewiesen, dass der Ort als solcher ihren Auftritt formal unterstützt. Ein Teil der Identität ist immer ein Angebot, dass wir aus einer bestimmten Bezugsgruppe entnehmen. Eine solche Verzahnung von Individuum und Gruppe wird in der Wahl der Stilmittel sichtbar. Was immer sich hier auch materialisiert, lässt sich meist entweder in der einen oder anderen Form vermarkten oder zumindest in Verbindung mit einer bestimmten Marke bringen. Identität ist in der westlichen Moderne ein Phänomen, in dem kommerzielle Angebote und somit auch Interessen eine wachsende Rolle spielen. »Step by step« ist es den großen Brands gelungen, Terrain gut zu machen um jene Spielflächen zu besetzen, auf denen wir versuchen unsere Rolle und Bestimmung zu finden.

 

Hier in der westlichen Welt fühlen wir uns nicht zur Uniformität gezwungen. Wir müssen nicht in demonstrativer Form im Gleichschritt marschieren. In der Masse aufzugehen, erzeugt jedoch nicht nur ein Gefühl der Ohnmacht, sondern bis zu einem gewissen Grad auch ein Gefühl der Macht. Wenn wir uns den uniformen Angeboten verschiedener Marken unterwerfen, so tun wir dies auf freiwilliger Basis und haben die Wahl. Menschen lieben Marken, weil sie Handlungsspiel-räume eröffnen, in dem sie diese definieren und einschränken. Sie liefern uns ein Bild was wir vom Leben zu erwarten haben und geben uns die entsprechenden Regeln, deren Einhaltung angeblich uns diesen Zielen näher bringt. Der öffentliche Raum ist einmal mehr jener Schauplatz, an dem diese Deutungs-angebote in einen Wettbewerb zueinander treten, um uns von ihrer Bedeutung zu überzeugen.

 

Dass nirgends alles erlaubt ist, erscheint uns als selbstverständlich. Dennoch nehmen wir im allgemeinen Regeln vor allem dann ernst, wenn sie andere betreffen. Für uns selbst gilt selbstverständlich die Ausnahme. Demgegenüber wird, einem Modediktat zu folgen, nicht als Freiheitsentzug gewertet. Welche Menschen und welche Handlungen im Detail dann jedoch mehr als nur unerwünscht sind, darüber gehen die Meinungen auseinander. In den eigenen vier Wänden können wir weitestgehend machen, was wir wollen. Aber es sind erst die Reaktionen der anderen, die uns in unserer selbstgewählten Rolle bestätigen.

 

Während wir uns im allgemeinen heute relativ tolerant zeigen, wenn Menschen demonstrativ Stellung beziehen, so endet dann das Freiheitsverständnis, wenn es zum Beispiel um die Toleranz gegenüber Menschen geht, für die öffentliche Plätze zu ihrem primären Lebensraum geworden sind. Diese Intoleranz ist verständlich, denn sie führt uns Aspekte unserer Gesellschaft vor Augen, die im Stande sind die, als sicher empfundenen Ideologien zu erschüttern. Ist die, als alternativlos empfundene Markt- und Gesellschaftsordnung wirklich ein sicherer Ort oder könnte uns auch jederzeit das Schicksal ereilen herauszufallen?

 

Der öffentliche Raum ist einer der Orte, in dem sich Ungewissheiten in Gewissheiten verwandeln, auch wenn es sich dabei nur um Illusionen handelt.

Wir können uns hier oft frei ausdrücken und uns in Szene setzen, wie und wo immer wir wollen. Diesen Eindruck haben wir zumindest. Dennoch lässt sich auch so etwas wie ein wachsendes Unbehagen beobachten. Was fehlt uns zum Glück? Botho Strauss würde vielleicht sagen: »Das Schöne.«

 

Die Stadt war immer schon ein Ort vor allem religiöser und patriotischer Demonstrationen in Form von Festen und Umzügen. Triumphzüge und prachtvolle Machtdemonstrationen helfen Gemeinschaftsgefühle zu wecken und zu festigen. Fiktionales und Imaginäres im Raum zu verkörpern, bietet die Chance greifbare Umstände zu schaffen. Etliche Straßenzüge und Plätze wurden so angelegt, dass sie sich vorzüglich für Paraden, Aufmärsche und Machtdemonstrationen eignen. Hier konnten und können große Menschenmengen erleben wofür jemand auf die Straße geht, sein Gesicht zeigt, sich einsetzt. Die Stadt ist und bleibt der wirksamste Raum, um geteilten Fantasien Ausdruck zu verleihen.

 

Der Karneval in Venedig ist ein gutes Beispiel dafür, wie durch definierte Freiräume und ritualisierte Formen der Entgrenzung, Rollenspiele möglich werden, die es den Menschen leichter machen, sich in die für sie vorgesehenen alltäglichen Rollen einzufügen. Eine zeitgemäße Form angepasster Freizügigkeit und vordefinierter Grenzüberschreitungen zeigte sich zum Beispiel bei den »Love Parade« Veranstaltungen in Berlin und andernorts. Gerade in solchen »Ausnahme-situationen« fühlen sich die Menschen durch jene Regeln verbunden, auf die sich alle verständigt haben. Oder wie Hanno Rauterberg schreibt: »Spielen können wir nur, weil wir uns voneinander abhängig machen. Ohne diese Abhängigkeit gäbe es keinen Spaß, keinen Sieg und auch nicht die Stadt mit ihren öffentlichen Räumen.«

 

In den USA ist ein ungezügeltes Ausleben von Rollen und Phantasien nur in speziell dafür vorgesehenen Reservaten möglich. Burning Man ist ein sieben tägiges Festival, das seinen Veranstaltungsplatz, weitab vom amerikanischen Alltag, in einer Wüste im US-Bundesstaat Nevada gefunden hat. Die Veranstaltung, wird jährlich von über 70.000 Menschen besucht, die hier für eine kurze Zeit einer alternativen Welt und einem außergewöhnlichen Modell des Zusammenlebens Ausdruck verleihen.

 

Die Stadt ist nicht nur ein Ort, der Ordnungen etabliert, sondern auch jene Bühne, auf der diese Ordnungsversuche immer wieder in Frage gestellt werden und sich bewähren müssen. Die Stadt ist in gewisser Weise der Geburtsort demokratischer Öffentlichkeit. Tagtäglich versammeln sich auf irgendwelchen Plätzen Menschen um deutlich zu machen, dass sie mit dem, ihnen zugewiesenen Platz nicht zufrieden sind. Sie demonstrieren mit dem Einsatz ihres Körpers wofür oder wogegen sie stehen. Der Wille muss sich durch eine Bereitschaft den eigenen Körper ins Spiel und somit in Gefahr zu bringen verkörpern. Dies geschieht entweder dadurch, dass man auf sonst übliche Schutzmechanismen, wie Kleidung, verzichtet, oder indem man versucht Konventionen zu verletzen. Dies geschieht natürlich auch, in dem viele Körper sich zu einer Massen zusammenschließen, in der die Individualität des Einzelnen zugunsten der Gemeinschaft in den Hintergrund tritt. Dies geschieht aber vor allem, indem Menschen ihre eigene Gesundheit und ihr Leben in Gefahr bringen, indem sie Gewalt provozieren. Der öffentliche Raum ist also vor allem jener Platz, an dem Menschen noch direkt und unmittelbar versuchen ihre Position zu finden und zu behaupten.

 

Generell zeigen sich zwei Methoden mit Unzufriedenheit umzugehen: Entweder wird versucht Veränderung durch einen Wechsel der Lebensumstände zu bewirken oder eigenes Handeln und Eingreifen, im Rahmen des aktuellen Zusammenhangs, soll neue Möglichkeiten eröffnen. Wer keine Chance sieht, in seinem bisherigen Lebensraum einen angemessenen Platz zu finden, macht sich heute vielfach auf den Weg zu weit entfernten Orten, der in seinen Vorstellungen bessere Chancen bietet. Wie sich dann jedoch nicht selten herausstellt, öffnet sich ein Spalt zwischen Traum und Wirklichkeit, der erst wieder überbrückt werden muss. Ein erster Schritt kann darin bestehen, dass sich die Menschen darum bemühen, den vorgefundenen Lebensraum so zu gestalten, dass sie sich mit ihm identifizieren können.

 

Das betrifft heute nicht nur Slums und Vororte. »Die Stadt wird als ein Ort der Selbstmobilisierung begriffen, der dem Einzelne ungewohnte Erfahrungen des eigenen Ichs erschließt« meint Hanno Rauterberg. »Guerilla Gardening«, das kultivieren von öffentlichen Grünflächen, zeigt als eine von vielen Tendenzen, die in eine ähnliche Richtung weisen, wie Menschen sich den Raum zurückerobern. Eine Spur zu hinterlassen, so belanglos sie auch immer sein mag, ist in einer Welt, die von den Menschen verlangt immer häufiger Sesshaftigkeit durch ein modernes Nomadentum zu ersetzen, von zentraler Bedeutung.

 

Von großer Beleibtheit erfreuen sich daher unterschiedlichste Ausdrucksformen, bei denen es darum geht, andere Menschen durch visuelle Spuren zu über-raschen. Damit Zeichen von Menschen mit Aufmerksamkeit bedacht werden, müssen sie auf Bekanntem aufbauen und dieses so verändern, dass es uns zum Nachdenken verführt. Das menschliche Hirn arbeitet im allgemeinen sehr ökonomisch, oder mit anderen Worten, wir nutzen es nur, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Sobald wir zu erkennen glauben, dass ein Zeichen aus spielerischen Gründen gesetzt wurde, sehen wir uns kaum genötigt unsere Vorurteile grundlegend in Frage zu stellen.

 

Eine weitere Methode sich als Gemeinschaft zu erleben und Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen sind die so genannten »Flash Mobs«. In diesem Zusammenhang wird wieder einmal deutlich, wie rasch wir uns an Eindrücke gewöhnen. Was uns beim ersten mal noch verwundert, verunsichert, zum Denken bringt und gefangen nimmt, wird rasch zur Routine, die wir bald wieder ignorieren lernen. Am Ende dreht sich immer alles um unseren Körper, um das, was er empfindet und um das, was er zum Ausdruck zu bringen im Stande ist. Alles andere sind lediglich Werkzeuge, die uns dabei helfen uns zu spüren und uns in Kontakt mit anderen Menschen zu bringen.

 

Als ich 1974 nach Wien kam um zu studieren, war Wien vor allem am Abend und an den Wochenenden eine menschenleere Stadt. In den vergangenen 41 Jahren hat sich nach meinem Empfinden in dieser Beziehung in der Stadt sehr viel getan. Wenn Gestaltung dazu einen Beitrag geleistet hat, worin hat er bestanden?

 

Mit dem Siegeszug der Kraftfahrzeuge hatte sich Stadtplanung in Verkehrsplanung verwandelt. Der Mensch hatte dadurch gegenüber den Fahrzeugen sein Nach-sehen. Durch die allgemeine Motorisierung wurden wir sowohl in Trab, als auch einem Zustand der Bewegungslosigkeit versetzt. Nur eines wurde zusehends unattraktiv, sich zu Fuß durch die Straßenschluchten zu bewegen. Jan Gehl meint: »Viele Planer glauben, bei  Architektur gehe es vor allem um die Form. In Wirklich-keit aber geht es um die Interaktion von Form und Leben, also um die Dinge, die sich zwischen Häusern abspielen.« Als allen Bemühungen zum Trotz der Verkehr staut statt zu fließen, dafür die Stadtzentren aussterben, hat ein Umdenken begonnen. Autofreie Zonen wurden geschaffen, aber sie blieben und bleiben leer. Warum? Architekten lieben es, der Welt ihre Vorstellung von Ordnung und Form aufzuzwingen. Darin unterscheiden sie sich kaum von Grafik Designern. Was Menschen wirklich brauchen, spielt dabei keine zentrale Rolle. Sie sollen sich damit zufrieden geben die Genialität der Kreativen zu bewundern und Schluss.

 

Alexander Mitscherlich schreibt: »Die gestaltete Stadt kann „Heimat“ werden, die bloß agglomerierte nicht, denn Heimat verlangt Markierungen der Identität eines Ortes.« Das ist sicherlich richtig. Aber wir müssen einen Bezug zu diesen Markierungen herstellen können. Wenn Form nicht mehr ist, als fremde Macht-behauptung – womit sollen wir uns dann identifizieren? Die Gebäude und Plätze werden immer größer. Der Mensch bleibt demgegenüber klein und fühlt sich immer kleiner. Sieht so die Orte aus, an denen wir den Rest unseres Lebens verbringen möchten? Erstaunlicher Weise wimmelt es dennoch an manchen städtischen Ecken nur so vor Menschen. So viele auch immer in einer Stadt wohnen, sie verteilen sich nicht gleichmäßig über alle Viertel, Straßen und Plätze. Menschen üben aufeinander, auch wenn sie es manchmal nicht wahrhaben möchten, eine erstaunliche Anziehungskraft aus. Sobald an einem bestimmten Ort sich viele versammeln, lockt dies immer mehr Menschen an. Die Mehrheit der Menschen ist hier, weil sie andere Menschen treffen und etwas erleben wollen. Auf Grund eines Attraktivitätswettbewerbs der Städte untereinander, wachsen jedoch die Bemühungen, Citys umzugestalten, um sie für Menschen wieder zu öffnen, indem Räume geschaffen werden die auch Platz für Unvorhergesehenes bieten. »Dem amerikanischen Soziologen Richard Sennett zufolge wird das Gros unserer Städte heute von öffentlichen Institutionen überreguliert. Dies zeigt sich beispielsweise an strengen Formalien, Bürokratisierung und übervorsichtigen Regelungen. Statt Unterschiedlichkeit wird Angleichung vorgeschrieben.« (Hans Peter Hongler und Markus Kunz)

 

Wie kriegen wir mehr Leben in unsere Stadt? Es braucht oft nicht viel mehr als einen Raum, den wir frei nach unseren eigenen Vorstellungen nutzen dürfen. Lebensqualität ist nicht vorrangig eine Frage von Gestaltungsqualität, zumindest nicht in der Form, wie dies Gestalter gerne behaupten. Nein, Menschen haben sehr wohl Interesse an gestalteten Orten. Es dreht sich jedoch nur selten um die Form an sich. Die Frage ist eher: Macht es eben Spaß ein bestimmtes Areal zu nutzen, oder ist die Form so etwas wie ein Widerstand, den es zu überwinden gilt?

 

Was zieht uns an und stößt uns ab? Sören Ulrik Thomsen meint dazu: »Erfolgreiche Städte sind chaotisch, komplex und kolossal.« Wie ist das zu verstehen? Chaos bedeutet, dass keine Ordnung vorherrscht. Unordnung ist eine Form der Toleranz gegenüber all jenen Erscheinungsformen, die nicht einem übergeordneten Muster folgen. Selbstverständlich gibt es auch immer Menschen, die mit einer solchen Offenheit schwer umgehen können. Komplex bedeutet, dass  sich an einem Ort unterschiedliche Bedeutungsmuster überlagern. Nicht eine Handschrift, eine Epoche, eine Vorstellungswelt dominiert alle sichtbaren Oberflächen. Kolossal bedeutet, dass ein Rahme geschaffen wurde, der uns an einem Gefühl der Erhabenheit teilhaben lässt.

 

Ein erfolgreiches Beispiel für das Zusammenspiel chaotischer, komplexer und kolossaler Elemente ist für mich das Museumsquartier in Wien. Zwischen die Gebäude der ehemaligen Reitställe und Kutschengaragen des Adels wurde ein weißer und ein schwarzer Kunstkoloss gestellt. In Ihnen werden Kunstschätze aufbewahrt. In den Räumen darum herum hat sich eine komplexe Vielfalt von Angeboten entwickelt: vom Kindermuseum bis zum Designforum. Wie die Menschen jedoch mit den Angeboten verfahren ist nicht planbar und chaotisch und gerade deswegen erfreut sich dieses Areal ganz besonderer Beliebtheit.

 

Räume wieder gehend zu erkunden, kommt dem menschlichen Navigations-system entgegen und erleichtert daher die Orientierung und damit auch die Identifikation mit einem Raum. So fühlen wir uns wieder als Teil der Stadt, sie liegt uns gleichsam zu Füssen. Menschen sind dann bereit Verantwortung zu über-nehmen, wenn sie sich mit einem sozialen Gefüge identifizieren können. Dazu müssen die Menschen eine Chance sehen, ihren Lebensraum selbst mitgestalten zu dürfen. Dann sind die Menschen gerne bereit einen Teil des Lebens aus dem Wohnzimmer in den öffentlichen Raum verlagern.

 

Was kann Gestaltung zur Lebensqualität eines urbanen Raums beitragen? Kann man ein besseres Leben gestalten? Ja, wen man den Menschen hilft, ihre eigene Position in der Welt zu finden.

 

Individualität ist die beste Garantie dafür, dass es der Menschheit immer wieder aufs Neue gelingt einen Ausweg aus Sackgassen zu finden. Der Mut und die Bereitschaft eigene Wege zu erproben, um dadurch anderen ein Beispiel zu geben, erfordert eine tolerante Haltung gegenüber jeder Form der Abweichung.

 

Die gegenwärtigen Entwicklungen weisen leider sehr oft in eine entgegengesetzte Richtung. Ein alles beherrschendes  Sicherheitsdenken hat bereits jene erfasst, die sich einer Anpassung verweigern. So soll zum Beispiel ein »Inflatable cobblestone«, ein großer aufblasbarer Würfel, die Provokateure vor den Sicherheitskräften bei Demonstrationen schützen. Wie Byung-Chul Han meint: »Man will nicht verletzlich sein, man scheut jedes Verletzen und jedes Verletztsein.« Manchmal habe ich inzwischen das Gefühl, dass selbst die Graffitis in Wien langsam ihre Sprengkraft verlieren und um unsere gefällige Zustimmung buhlen, und sich dabei auf altbekannte Klischees stützen.

 

Marcus Steinweg hat einmal gesagt: »Die Realität fügt sich nicht unserem Bild der Realität. Erst in der Krise zerfällt das Bild der Realität und wir fühlen uns enttäuscht. Oder mit anderen Worten: Krise ist wenn sich Täuschungen als Illusion erweisen.« Vorwiegendes Ziel von Gestaltung scheint es jedoch nach wie vor zu sein Illusionen zu erzeugen und nicht, diese zu demaskieren.