Über Demokratie und Macht. Beitrag für das Vorarlberger Landestheater: William Shakespeare. Cold Songs: Rom. PICKNICK UND DEBATTE

24. September 2019

 

Bürgerinnen und Bürger,

 

wir sind es inzwischen gewohnt, anzuklagen, Schuldige zu suchen, zu kritisieren und Horrorszenarien herauf zu beschwören. Und viele warten seit Jahrhunderten auf den Propheten oder die Prophetin, die uns die Erlösung von allen Problemen bringt. Was, wenn wir uns selbst um jene Herausforderungen bemühen würden, die wir auch selbst verursacht haben?

Ich möchte deshalb der Frage nachgehen: Was könnte uns weiter bringen? Welchen Beitrag könnten wir leisten, um uns nicht als Opfer von Entwicklungen zu erleben, die wir so nicht wollen? Welchen Beitrag könnten wir leisten, um an der Gestaltung der Zukunft mitzuarbeiten?

Macht ist ein Vermögen, etwas zu bewegen. Erfolgreiche Kooperationen erweitern Möglichkeiten, die einzelnen verwehrt sind. Wir sind alle Nutznießerinnen und Nutznießer einer komplex vernetzten Gesellschaft und Wirtschaft. Mit den wachsenden Möglichkeiten und dem zunehmenden Umfang gegenseitiger globaler Abhängigkeiten wird es notwendig, die konventionellen Strukturen der Steuerung und die damit verbundenen Verantwortlichkeiten entsprechend anzupassen.

Wer immer Systeme entwickelt und Entscheidungen trifft, die für eine Vielzahl von Menschen von grundlegender Bedeutung sind, darf dies nicht in Unkenntnis der Folgen und auf Basis eigennütziger Interessen tun. Die vorherrschende Auffassung, Märkte wären geeignete Orte, um einen Ausgleich von Eigeninteressen zu gewährleisten, hat sich als schwerwiegender Irrtum erwiesen. Denn was auf Märkten nicht ge- und verhandelt wird, sind die Konsequenzen der Transaktionen, ihre meist unsichtbaren Auswirkungen auf Umwelt und Gesellschaft.

Unsere Gesellschaft hat umfangreiche Regeln entwickelt, die sich auf das Verhalten einzelner Personen beziehen, deren Missachtung entsprechende strafrechtliche Konsequenzen nach sich zieht. Es ist daher äußerst verwunderlich, dass jene Personen, denen wir die Macht übertragen, in wirtschaftlichen, ökologischen, technischen, gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenhängen weitreichende Entscheidungen zu treffen, nicht entsprechend zur Verantwortung gezogen werden. Sie erklären uns, bei aller ihnen zur Verfügung stehenden Macht, unserem Willen machtlos ausgeliefert zu sein. Sie könnten in der Politik nur populäre Maßnahmen ergreifen, weil wir sie sonst nicht mehr wählen würden.

Auf den Märkten könnte ebenfalls nur angeboten werden, was den Konsumentinnen und Konsumenten gefällt, ansonsten würde die Wirtschaft zusammenbrechen. Wir erleben somit im Grunde eine Dominanz der Ohnmacht. Allen seien die Hände gebunden.

Für dieses Problem gibt es jedoch eine einfache Lösung. Folgenschwere Entscheidungen müssen der Öffentlichkeit gegenüber umfassend begründet werden. Auf der politischen Bühne, die sich als öffentlicher Debattenraum präsentiert, werden derzeit nicht alle gesellschaftlich relevanten Fragestellungen verhandelt. Politische Entscheidungsträger erleben sich immer öfter als machtlos gegenüber internationalen technologischen und wirtschaftlichen Entwicklungen. Wozu brauchen wir jedoch ein politisches System, wenn dieses sich für wesentliche Entscheidungen als nicht zuständig erklärt?

Die Komplexität der Wirkungszusammenhänge übersteigt in sehr vielen Fällen die geistigen Verarbeitungsmöglichkeiten eines einzelnen menschlichen Gehirns. Wenn Entscheidungen jedoch nicht auf Basis von Vorurteilen oder Vermutungen getroffen werden sollen, dann müssen wir Methoden entwickeln, wie sich das vielfach vorhandene, jedoch auf viele Expertinnen und Experten verteilte Wissen zusammenführen lässt. Das wird sich nicht ohne entsprechende Vertrauensbasis und Forderung nach transparenten und nachvollziehbaren Prozessen der Meinungsfindung bewerkstelligen lassen.

Vor allem in Krisensituationen, die alle betreffen, sollte die Macht der Entscheidung nicht jenen zukommen, die falsche Versprechungen machen und suggerieren, jeder würde genau das bekommen, was er sich persönlich wünscht. Nachdem relativ neue Technologien einen wachsenden Einfluss auf unser Denken und Leben haben, wird es notwendig sein, diese Optionen auch zu nutzen um neue Kommunikations- und Wissensstrukturen aufzubauen. Da diese Systeme derzeit fast ausschließlich von kommerziell ausgerichteten Unternehmen entwickelt und betrieben werden, dienen sie deren Gewinnmaximierung und nicht einem optimierten Informationsaustausch. An den von ihnen erwirtschafteten exorbitanten Gewinnen ist bereits zu erkennen, dass sie uns mehr nehmen als geben.

So sehr wir diese Angebote auch als angenehmen Service erleben, die dahinter stehenden Konzerne haben in vielfacher Hinsicht die Macht der Entscheidungen an sich gerissen. In der angekündigten Zukunft einer »smarten« Welt wird uns so viel als möglich abgenommen. Wir brauchen uns nicht mehr um etwas kümmern oder Verantwortung übernehmen, solange wir uns im Sinne der Serviceangebote verhalten. Als All-inclusive-User sind wir abgeschirmt von allen Prozessen der Herstellung, sind gezwungen, blind den Angeboten zu vertrauen.


Im Artikel 14 des deutschen Grundgesetzes steht unter Paragraph 2: »Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.« In einer Welt der Serviceangebote besitzen wir kein Eigentum mehr, sondern borgen es uns nur aus, sind also zu nichts verpflichtet, haben dadurch aber auch keine Rechte mehr über das, was uns geliehen wird. Wir verlieren aus lauter Bequemlichkeit die Macht über weite Bereiche unseres Lebens, indem wir vieles outsourcen, was bis vor kurzem unseren Alltag ausgemacht hat.

Dies betrifft nicht nur materielle Dinge sondern auch zunehmend unsere mentalen Prozesse. Wir müssen uns immer weniger um Informationen und das Erarbeiten von Erfahrungen bemühen. Jederzeit stehen uns vorfabrizierte Meinungen, Ratings und Zusammenfassungen zur Verfügung. Wir müssen nur noch, wie in einem Supermarkt, uns passende Vorstellungen zu eigen machen. Auch hier wollen wir nicht wissen, woher diese Vorstellungen kommen, welche Interessen sich dahinter verbergen und wie sie entstanden sind.


Auch wenn wir im Durchschnitt gesehen immer längere Zeit in Bildungseinrichtungen verbringen, lernen wir dort sicher vieles, aber vermutlich nur wenig darüber, wie es gelingt, Verantwortung zu übernehmen. Wir müssten lernen, wie die dafür notwendigen Fakten ausfindig gemacht und in sinnvoller Form miteinander in Beziehung gesetzt werden können. Viele sehen sich daher nicht mehr in der Lage, als mündige Bürgerinnen und Bürger aufzutreten. In jeder Lebensbeziehung werden wir auf die Rolle des Konsumenten und der Konsumentin degradiert, deren Aufgabe sich darin erschöpft, auszuwählen, was attraktiv erscheint.


Derzeit sammeln die durch die Nutzung von Serviceleistungen Ermächtigten alle möglichen Daten über Personen, um diese dann bestmöglich ihren Interessen gemäß steuern zu können. Dieses System sollten wir umpolen in ein System, das allen Bürgerinnen und Bürgern umfassenden Einblick in Entscheidungsprozesse erlaubt.


Alle Daten, die uns als Gemeinschaft betreffen, müssten offengelegt werden. Damit würde uns mehr eingeräumt als nur ein Wahlrecht von Personen, die einer bestimmten politischen Partei zugerechnet werden. Jeder Bürgerin und jedem Bürger sollte die Möglichkeit eröffnet werden, in transparenter und nachprüfbarer Form Fakten und Informationen beizustellen, um Entscheidungsprozesse zu optimieren. Wir sollten es als unsere Verpflichtung sehen, einen Beitrag zu einem vernünftigen Zusammenleben zu leisten. Jede Behauptung müsste allerdings begründet werden. Ziel ist es, einen Wissenspool zu schaffen, der es ermöglicht, faktenbasierte Optionen zu identifizieren um entsprechende Konsequenzen möglichst umfassend berücksichtigen zu können.


Die politische Bühne sollte nicht ein abgeschiedener Ort sein, sondern ein Marktplatz der Ideen und Erkenntnisse. Auf einem solchen Marktplatz entscheiden nicht Mehrheiten. Wann immer die Fakten nicht eindeutige Lösungen nahe legen, müssen deutlich markierte Experimente Wege aufzeigen, die, wenn sie nicht zum erhofften Ziel führen, auch abgebrochen oder sofort entsprechend abgeändert werden. Wer Verantwortung übernimmt, kann diese, selbst wenn er die damit verbundene Funktion nicht mehr inne hat, nicht mehr abgeben. Wer mitreden will, muss sich auch bereit erklären, Verantwortung für das, wofür er eintritt, zu übernehmen. Jede populistische Propaganda würde damit illegitim.

Eine Umsetzung grundlegender technologischer Entwicklungen darf nicht abseits entsprechender politischer Entscheidungen erfolgen. Solange es uns nicht gelingt, ein Bild von den Folgen konkreter Entwicklungen zu erarbeiten, dürfen diese nicht bestimmenden Einfluss gewinnen.


Warum sprechen jene, die nach der Macht greifen, heute vorwiegend von Bedrohungen, die sie angeblich mit Gewalt zu verhindern verstehen, wie Migration, Terrorismus und Kriminalität? Und warum schweigen sie über jene Aufgaben, die zu bewältigen wären: Bevölkerungsexplosion, schonender Umgang mit Ressourcen, Verbot jeder Form irreversibler Umweltzerstörung, Durchsetzung einer Chancengleichheit für alle Menschen und vieles mehr. Haben jene, die im Paradies leben, dieses auch geschaffen? Oder hatten sie einfach nur Glück, an einem Ort und in eine Gemeinschaft hineingeboren zu werden, in der vieles einfach leicht zu erreichen ist? Chancengleichheit, das klingt für viele nach Kommunismus und muss daher mit allen Mitteln verhindert werden.

Wo hatten die Menschen jedoch je in der Geschichte die gleichen Chancen, sich mit ihrem Wissen und ihren Erfahrungen einzubringen?


Jeder Bürgerin und jedem Bürger sollte die größtmögliche persönliche Handlungsfreiheit zugesprochen werden. Alle Entscheidungen, die Mehrheiten betreffen, müssen politischer Macht untergeordnet werden. Auf der politischen Bühne haben nur diejenigen etwas zu sagen, die auch wissen, worüber sie sprechen und auch der Lage sind, Rechenschaft über ihre Aussagen abzulegen.

Woher weiß ich, wovon ich zu wissen glaube? Kann ich die möglichen Folgen meiner Behauptungen verantworten? Die Idee der Führung durch Führer und Führerinnen sollten wir generell aufgeben. Sie ist nur entstanden, weil wir keine alternativen Methoden der Entscheidungsfindung und Steuerung kannten. Jene, die bereit sind, sich zum Wohle der Gemeinschaft schlau zu machen, sollten auch Gehör finden.


Es ist heute möglich geworden, Informations- und Kommunikations-Netzwerke zu entwickeln, die in der Lage sind, große Datenmengen zu analysieren, um daraus erfolgsversprechende Optionen abzuleiten. Es wäre verrückt, in der gegenwärtigen Situation anstatt dessen auf die göttliche Kraft von Führern und Führerinnen zu vertrauen. Sie können auf die anstehenden Fragen im Alleingang keine brauchbaren Antworten liefern. Wir brauchen keinen Staat, der seine Bürgerinnen und Bürger lückenlos überwacht, sondern gemeinschaftliche Institutionen, die dafür sorgen können, dass alle Menschen auch in Zukunft ein menschenwürdiges Leben führen können.


Das alles ist nicht neu. Die Bemühungen, der Vernunft und nicht den Emotionen die Entscheidungshoheit zu überantworten, sind allgegenwärtig und führen dennoch ein Schattendasein. Für sehr viele Fragen wurden bereits sinnvolle Antworten gefunden. Es ist lediglich jenen, die auf Emotionen statt auf Verstand setzen, gelungen, sich überall in den Vordergrund  zu drängen. Die Medienproduzenten lieben alles, was sich als billig, skandalträchtig, laut und aufpeitschend zeigt. Die vernunftgeleiteten Modelle werden sich immer als anstrengend, leise, langsam und unaufdringlich erweisen. Wir sollten ihnen dennoch mehr Platz einräumen, denn es geht um mehr als ein paar aufregende Erlebnisse. Es geht um unser Überleben.


Bürgerinnen und Bürger, es ist nun an uns, zur Tat zu schreiten, um gemeinsam die Zukunft zu steuern.

 



 

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