Gestaltungsaufgaben: Can I help you? Welche Aufgaben warten auf uns?
Ich möchte das Leistungsspektrum gestalterischer Arbeit aus einer Außenperspektive betrachten. Auffällig an der Profession visuelle Gestaltung ist die mangelnde Übereinstimmung von Selbstbild und Fremdbild. Wie zum Beispiel der aktuellen Broschüre "Designbewusstsein in Österreichs Unternehmen" von designaustria zu entnehmen ist, sehen etwa die Hälfte aller österreichischen Unternehmen Design nicht als eine Leistung, für die sie professionelle Hilfe in Anspruch nehmen möchten. Sie haben offenbar nicht die Erfahrung gemacht, dass es eine Branche gibt, die in überzeugender Form wesentliches zum Erfolg eines Unternehmens beiträgt. Design wird oft nur als Kostenfaktor wahrgenommen, als eine Art Luxus, auf den man auch zur Not verzichten kann. Die Gestaltungsbranche hingegen glaubt an ihre Wirkungsmächtigkeit und ist davon überzeugt, einen entscheidenden Beitrag zu einem lebenswerten Leben zu leisten. Worin besteht nun diese Leistung, die zwar wahrgenommen, aber vielleicht unterschätzt wird?
Sehr verbreitet ist die Ansicht, Design sei nichts weiter als ein ornamentaler Glanz über der harten Maschinerie des Lebens. Form sei nichts weiter als ein fröhliches Spiel, das uns hilft, die Zwänge des Alltags zu ertragen und zu vergessen. Sollte dem wirklich so sein, dann gäbe es keinen Grund, eine solch wirkungsmächtige Oberflächlichkeit gering zu schätzen. Es stellt sich mir jedoch die Frage: wie ist die Oberfläche mit der dahinter verborgenen Struktur verknüpft? Warum bedarf es eines formalen Schleiers, um Freude an der sichtbaren Welt zu finden? Ließe sich nicht auch eine Welt gestalten, die, zumindest in weiten Flächen, auch ohne eine solche Form der Verschleierung einen lebenswerten Eindruck vermittelt? Was kann also Gestaltung leisten, wie kommt sie zustande und welche Bedeutung könnte diese Leistung in der gegenwärtigen Gesellschaft einnehmen?
Um gestalterisch arbeiten zu können, bedarf es eines sensiblen Wahrnehmungsapparats. Es ist notwendig, der Welt mit einer gewissen Distanz, aber auch Offenheit, zu begegnen. Jene Zusammenhänge, in die wir zutiefst verstrickt erscheinen, entziehen sich gerne unserer bewussten Wahrnehmung. Die Welt muss meist, um ihr näher zu kommen, entschlüsselt und Wahrgenommenes muss interpretiert und verarbeitet werden. Um etwas zu entschlüsseln, ist ein passender Erfahrungsschatz notwendig, der uns durch Gegenüberstellung das je Besondere erst vor Augen führt. Sowohl analytische Fähigkeiten, als auch ein umfassendes Wissen sind dafür notwendig. Mit anderen Worten: Gestaltung setzt die Bereitschaft voraus, sich ein Bild zu machen. Gestaltung kennt eigene Verfahren, um sich einem Sachverhalt zu nähern. Gestaltungsarbeit erschöpft sich nicht in sogenannter Kopfarbeit. Ideen und Konzepte entfalten ihre Wirkungskraft, indem sie Gestalt annehmen. Gestalterinnen und Gestalter übersetzen Wahrgenommenes in ebenfalls wieder Wahrnehmbares. Die so entstehenden visuellen Spuren unterscheiden sich in gewisser Weise von „ungestalteten“ Artefakten. Sie erwecken den Anschein, eine Brücke zu schlagen zwischen dem je Besonderen und anderen Erfahrungswerten. Auf diese Weise werden Zusammenhänge erfahrbar, reduziert sich die Komplexität der Erfahrungsmuster, werden Handlungsoptionen sichtbar, entstehen Bedeutungsmuster, auf die wir uns im Zusammenleben mit anderen Menschen beziehen können. Auch wenn uns bei der Umsetzung von Ideen in begreifbare Artefakte immer umfassendere technische Hilfsmittel zur Verfügung stehen, so stellt sich wiederholt heraus, dass durch das Einhalten sogenannter Gestaltungsregeln noch nicht das entsteht, was wir als gelungene Formgebung genießen. Wie auch beim Kochen, bieten Rezepte mitunter gute Anhaltspunkte. Gestaltung wird jedoch zu einer Produktion gehalt- und bedeutungsloser Artefakte, wenn sie nicht über die Anwendung von tradierten Mustern hinausfindet. Wie Tanizaki Jun'ichiro andeutet: „ Meisterschaft, das ist jene Patina, die sich beim langjährigen unermüdlichen Polieren ergibt.“ Auch die Meisterschaft einer Köchin oder eines Kochs entwickelt sich aus wiederholter Übung, die immer in der Frage gipfelt: ist das, was ich hier gekocht habe, geschmacklich attraktiv, bekömmlich und nachhaltig gesund? Die Antwort können nur die Gäste geben, die sich heute eventuell auch noch darüber sorgen, welche ökologischen Spuren der Verzehr der zubereiteten Speisen auf diesem Planeten hinterlässt. Auch Gestaltungsarbeit bewährt sich in seiner Wirkung in doppeltem Sinn. Wird das, was hier entsteht, überhaupt wahrgenommen und wenn ja, wird es als hilfreich oder als störend empfunden? Gestaltungsarbeit ist eine Art fortschreitende Übung, die im Grunde keinen Endpunkt kennt. Das Ergebnis von Gestaltungsarbeit entsteht somit aus einem Geben und Nehmen, aus einem Zusammenspiel von Gefühlen und Gedanken und handwerklichem Geschick. So kommen Artefakte zustande, die es vielfach überhaupt erst erlauben, wiederum neue Gedanken und Gefühle entstehen zu lassen und deren Wirkungskraft auf andere Menschen so erst erfahrbar wird.
Diese Artefakte sind nicht nur das Ergebnis von Energieeinsatz und Bewegung, sondern setzen neue Energien frei und besitzen das Potential, erneut Bewegung zu provozieren. Dabei sollten wir nie vergessen, dass keine dieser Bewegungen aus dem Nichts entsteht, sondern immer auf Vorhandenem aufbaut. Auch wenn heute vermehrt Bemühungen bemerkbar werden, einzelne Aspekte aus dem allgemeinen Strom zu isolieren, um einen alleinigen Besitz und Verwertungsanspruch zu stellen, sollten wir nicht vergessen, dass mit jedem gewährten sogenannten Urheberrecht der Allgemeinheit Gewalt angetan wird und die gesellschaftlichen Potentiale auf diese Weise verarmen und verkümmern. Durch Gestaltungsarbeit entwickeln sich Werkzeuge, mit deren Hilfe sich in vielfacher und komplexer Weise Gefühle und Vorstellungen modulieren lassen. Was als sichtbare Form in der Welt erscheint, folgt somit einerseits konkreten Intentionen und löst andererseits Kettenreaktionen aus, deren Ausrichtung und Folgen zumeist offen und überraschend sein können. Gestaltungsarbeit sieht sich somit, wie viele andere Tätigkeiten auch, in einer ambivalenten Situation: sie kann sich der Verantwortung der geleisteten Arbeit nicht gänzlich entziehen, ohne je genau im voraus zu wissen, wofür am Ende die Verantwortung zu tragen ist. Wenn Gestaltungsarbeit als unschuldig erklärt wird, wenn sie sich ihrer Wirkungsmacht nicht bewusst ist, dann hat sie es auch nicht verdient, entsprechend gewürdigt zu werden. Da Gestaltungsarbeiter als Dienstleister bestellt und bezahlt werden, die unterschiedlichste Kenntnisse und Fähigkeiten anzubieten haben, tritt leicht in Vergessenheit, welchen Nutzen die Werkzeuge erbringen sollen, die auf diese Weise entstehen. Die Wirkungszusammenhänge, in denen Gestaltungsarbeit sich entfaltet, sind unbeschreiblich vielfältig. Ich möchte dennoch ein paar wenige Aspekte herausgreifen, um mich so der Frage zu nähern: Welche Aufgaben warten auf uns und welchen dieser Aufgaben möchten wir auch mit Begeisterung Folge leisten?
Ein Wirkungszusammenhang, der von hoher gesellschaftlicher Bedeutung ist, aber nach meiner Erfahrung – zum Beispiel im Rahmen von Gestaltungsausbildung – wenig thematisiert wird, ist die Produktion von Angst und Schrecken, die Einschüchterung und Desorientierung von Bevölkerungsgruppen. Dabei sind die Aufwendungen, die in diesem Bereich getätigt werden, von gewaltigem Umfang und von nicht zu unterschätzender Wirkung. Die Androhung unmittelbarer körperlicher Gewalt ist dabei nur das Ende einer Kette von Aktivitäten, die von einer immer gründlicheren Observation, über umfangreiche Propagandamaßnahmen, bis zur Demonstration einsatzbereiter Machtinstrumente reicht. Dahinter verbirgt sich die Vorstellung, dass die Intentionalität und Handlungsbereitschaft eines Menschen nicht seinen Lebensumständen, sondern einer inneren Mechanik geschuldet ist, die sich durch gezielte Beobachtung ans Tageslicht bringen und mit geeigneten Hilfsmittel manipulieren lässt. Überschreitet jemand eine, im Rahmen der Anwendung von Überwachungssoftware als Norm programmierte Grenze, können immer raffiniertere Werkzeuge zum Einsatz kommen, um eine solche Zielperson wieder der herrschenden Ordnung anzupassen. Die angedrohte Kontrolle jeder noch so kleinen Handlungsspur, in Kombination mit einer sogenannten Vorratsspeicherung, all dieser, als Indizien bezeichneten Datensätze, führt relativ erfolgreich zu einem vorauseilenden Gehorsam und einer damit verbundenen Bereitschaft, sich möglichst intensiv mit den aktuellen Handlungsnormen einer Gesellschaft auseinanderzusetzen, um sich jeder Verdächtigung zu entziehen. Der Mut für gewagte Ideen ist uns abhanden gekommen. „Kreativität“ ist zu einer harmlosen Spielerei mit Formen verkommen.
Die sogenannten Massenmedien würden sich allerdings auch nicht einer so breiten Beliebtheit erfreuen, wenn nicht die Sehnsucht nach Orientierung an vorgegebenen Mustern durch entsprechende Androhungen permanent gesteigert würde. Wir wollen erfahren, wie wir es verhindern können, dass auch uns die Augen ausgestochen werden. Kann Gestaltungsarbeit solche zwingenden Interventionen nur unterstützen, oder auch helfen, ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu führen? Wer traut sich heute noch Ideen außerhalb der Norm zur verfolgen? Wer hat keine Angst, Verrücktes, Außerordentliches, Bahnbrechendes zu erproben? Stürzen wir uns nicht aus der Stratosphäre, riskieren im Abenteuerurlaub Kopf und Kragen und schweigen zu den Skandalen, die uns umzingeln?
In jenem Gestaltungsbereich, der gerne auch als Kunst bezeichnet wird, haben sich eine Reihe von Ansätzen entwickelt, die in der Lage sind, vorherrschende Deutungsmuster und Normen in Frage zu stellen und zu verunsichern. Wer sich intensiver solchen Mustern aussetzt, verliert die Fähigkeit, eindeutige Zuordnungen zu treffen und zweifelsfreie Vorurteile anzuwenden. Kunstkonsum kann zu einer differenzierten Weltwahrnehmung verleiten. Es braucht daher nicht zu verwundern, dass solche Kunst einmal und immer wieder heftig umstritten ist und angefeindet wird. Aus dem Alltagsleben ausgegliedert und verbannt in eine eigens dafür errichtete Welt, verliert sie ihren Schrecken und ihre Sprengkraft. Dort konsumieren wir sie als kontrollierte Aufregungen, denen wir jederzeit wieder unseren Rücken zukehren können. Formalästhetische Dehnungsübungen, die Suche nach neuen Ausdrucksformen, ist eine Möglichkeit, tradierte Formen zu hinterfragen, um unser visuelles Vokabular zu erweitern und veränderten Gegebenheiten anzupassen. Form gewinnt jedoch immer erst Bedeutung durch jene Kontexte, in denen sie Wirkung zeigt. Formale Ausbruchsversuche lassen sich auch leicht wieder einfangen. In vielen Fällen werden Formspielereien von jenen, die bestrebt sind Wirkungen zu entfachen, nur eingeschränkt ernst genommen. Sie haben gelernt formalen Ausdruck nach ihrem Belieben zu gebrauchen oder zu missbrauchen. Der Glaube an die Allmacht der „Kreativkraft“, sowie die mangelnde Bereitschaft sich durch Verstrickungen die Hände schmutzig zu machen, verwandeln die so genannte Kreativwirtschaft in einen willigen Gehilfen jedweder Absichten.
Es wäre also an der Zeit, sich als Gestalterin und als Gestalter wirksam ins Spiel zu bringen. Wer mitreden will, muss leider auch die Sprache sprechen, in der Entschlüsse gefasst werden. Gestaltung ist dort wirksam, wo sie als verlängerter Arm einem Willen Ausdruck verleiht. Die Entscheidung bleibt niemandem erspart: Wer sein Leben von anderen finanziert sehen möchte, muss sich in deren Dienst stellen. Wer unabhängig bleiben will, muss selbst Werte schaffen, die von anderen als begehrenswert erachtet werden. Der Vorteil, als Einzelkämpferin oder als Einzelkämpfer sein Leben zu bestreiten, führt automatisch zu einer relativen Machtlosigkeit gegenüber gesellschaftlich relevanten Institutionen und Unternehmungen. Die Kooperationsmodelle im Gestaltungsbereich sind somit durchaus entscheidend für die Chancen, auch wirklich gestaltend relevant zu werden. Welche Werte können im beschriebenen Sinn durch Gestaltungsarbeit geschaffen werden? Die aktuellen Entwicklungen im Bereich der Bereitstellung von Waren und Dienstleistungen, als auch die ausufernde Produktion einer medial vermittelten wahrnehmbaren Oberfläche, in Form immer vielfältigerer Medienprodukte, haben uns von unmittelbarer Erfahrung abgeschnitten. Arbeitsteilung, Spezialisierung und Vernetzung konfrontiert uns mit einer Komplexität an Informationsbausteinen, die eine geordnete Weltwahrnehmung nur durch eine radikale Form der Wahrnehmungsverweigerung und Ignoranz ermöglicht. Auch jene Gestaltungsformen, die als Interfacedesign beschrieben werden, erfüllen die Aufgabe, zu verhüllen und zu verbergen, was uns auf Grund seiner unmittelbaren Unbegreiflichkeit ansonsten verwirren würde.
In diesem Sinne hat uns Design der Welt nicht näher gebracht, sondern ermöglicht uns ein von den konkreten Umständen möglichst unabhängiges Leben, inmitten von Simulationen und Illusionen. Wenn Eindrücke sich nur unserer Phantasie verdanken, so schmälert dies nur unwesentlich deren Wirkungsgrad. Wir erleben uns in der modernen Welt, mehr denn je, als haltlos und orientierungsbedürftig. Die Versuchung ist daher groß, die allgegenwärtigen Medienflächen als Orientierungshilfen zu benutzen. Zumeist wird auch der Eindruck vermittelt, unsere Fragen würden hier beantwortet, bevor sich diese uns überhaupt stellen. Was allerorts oft genug wiederholt wird, erweckt leicht den Eindruck, selbstverständlich und alternativlos zu sein. Wer glaubt heute nicht, dass Beziehungsglück sich aus entsprechendem Konsumverhalten ergibt? Wie wäre eine stets wachsende
Schönheitsindustrie denkbar, ohne die wiederholte Konstruktion solcher angeblicher Zusammenhänge? Wir lassen uns von einem Informationsüberschuss beherrschen. Die Frage, was wir vom Leben erwarten, können wir uns scheinbar ersparen. Zwei Spannungsfelder bestimmen zunehmend unseren Informationskonsum. Der steigende Konkurrenzdruck, verbunden mit der Drohung gesellschaftlicher Abwertung und Ausgliederung, oder die Verheißung glänzender Karrierechancen, in Verbindung mit ebenfalls steigenden Glücks- und Erlebnisversprechen, hat viele Menschen in Informationsjunkies verwandelt.
Der moderne Mensch weiß nicht, wie er zu sein hat und demnach sein möchte. Inwieweit hilft uns die durch Design geformte Welt unseren Bedürfnissen näher zu kommen? Wodurch werden Perspektiven verengt, Blickwinkel geschlossen, Zusammenhänge verschleiert? Stellt das, was sich zeigt, uns jene Informationen zur Verfügung, die wir suchen, um verantwortlich und selbstbestimmt zu handeln? Entwertung ist der Motor, der unsere Wirtschaft vorantreibt. Um einer Sättigung zuvor zu kommen, hat sich ein Wettlauf entwickelt, indem ein immer schnellerer Takt sogenannter „Neuerungen“ das Vorhandene attackiert. Vor allem im Bereich medialer Produktion ist in diesem atemlosen Prozess keine Zeit für Reifungsprozesse mehr vorhanden. Ideen, Konzepte, Umsetzungsversuche brauchen jedoch Zeit, damit ein Werk von dauerhafter Bedeutung sich entwickeln kann. Kultureller Reichtum entsteht, indem unterschiedliche Bedeutungsmuster sich gegenüberstehen und nicht, wenn ein Muster das andere ersetzt und somit auslöscht. Es mangelt uns sicherlich nicht an medial verfügbarem Material. Aber wo lernen wir den Umgang damit, wer führt uns in die notwendigen Kulturtechniken ein, die wir benötigen, um das Material zu dechiffrieren? Gerne wird davon ausgegangen, dass sich die sichtbare Welt von selbst versteht und wir vergessen, dass wir uns permanent darüber verständigen müssen und auch verständigen. Bildung bedeutet, Menschen Zugang zu jenen Fähigkeiten und Kenntnissen zu verschaffen, die es ihnen möglich machen, eine demokratische Gesellschaft mitzugestalten. Alle Menschen sollten etwas zu sagen haben. Schulen und Bildungsinstitutionen haben in der digital vernetzten Welt jedoch unübersehbar Konkurrenz bekommen. Wenn wir uns fragen, aus welchen Quellen Menschen vorwiegend jene Informationen entnehmen, die sie als Grundlage für die Gestaltung ihres Lebens heranziehen, so spielen Netzwerke aller Art eine zentrale Rolle.
Zunehmend über digitale Medien vermittelt, halten wir Kontakt zu anderen Menschen. Die Option ein vernetztes Denken praktizieren zu können, hat gegen Ende des letzten Jahrtausends beeindruckende Zukunftshoffnungen hervorgerufen. Der „Datenhighway“ stellte die „Old Economy“ grundlegend in Frage und sollte zu einer neuen, noch nie dagewesenen Blüte des menschlichen Geistes führen. Die neuen Marktplätze, auf denen wir uns nun austauschen, sind jedoch nicht in öffentlichem und somit nicht in unserem Besitz. Es haben sich viele alten Strukturen erhalten, ergänzt durch neue, noch mächtigere Institutionen, die es verstehen, sich so weit als möglich jeglicher gesellschaftlicher Kontrolle zu entziehen. Wir haben in den digitalen Netzen nur jene Gestaltungsmöglichkeiten und Zugänge, die uns von den privatwirtschaftlichen Betreibern zugestanden werden. Wir sind hier nicht unter uns, sondern füttern mit jedem Beitrag Datenbanken, die nach statistischen Modellen durchforstet und ausgebeutet werden. Diese Vorgänge werden uns als „demokratisch“ verkauft, denn sie werden vorgeblich nur zu unserem uneingeschränkten Vorteil betrieben. Aus unseren Bemühungen, uns zu verständigen, werden Schlüsse gezogen. Nicht mehr der unmittelbare Austausch von Informationen ist jener Prozess, aus dem heraus sich die Handlungsweisen entwickeln. Was zählt, sind nicht mehr Argumente, noch überzeugende Ausdrucksformen. Quantitäten, Häufungen, aus Überlagerungen entstehende Muster lösen jene Computersignale aus, die dann in unserem Alltag als unveränderliche Anpassungsforderungen hereinbrechen, als hätte sich hier eine zweite Natur entwickelt, die nur ein Gesetz kennt – den Algorithmus. Dass Programme geschrieben werden und auch umgeschrieben werden können, gerät schon deshalb leicht in Vergessenheit, weil nur eine Minderheit in der Lage ist, selbst Programme zu schreiben. So besteht vorderhand keine Gefahr, dass wir uns abnabeln und aus unserer Abhängigkeit von fremdgesteuerten Systeme befreien. Nicht nur die Angst, sich zu exponieren, schmälert die Potentiale der entstehenden digitalen Netzwerke, auch finden hier nicht, wie erhofft, alle gleichermaßen Gehör. Sichtbarkeit ist und bleibt eine Herrschaftsressource. Macht bedarf einprägsamer Bilder, die unsere Aufmerksamkeit fesseln und unseren Blick fokussieren. Unsicher, wohin wir unseren Blick wenden sollen, bevorzugen wir, in Zustimmung als auch Ablehnung, jene Ansichten, die von möglichst vielen geteilt werden. Wer über entsprechende Ressourcen verfügt, besitzt auch in der digitalen Welt unübersehbare Vorteile und ist in der Lage, jene Themen vorzugeben, die den alltäglichen medialen Diskurs bestimmen. Wer keine Chance erhält, sichtbar zu werden ist machtlos.
Was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, darüber können wir uns auch nicht verständigen. Wir haben als Gestalterinnen und Gestalter somit viel zu tun. Wir können jenen, die sich selbst nicht in Szene zu setzen vermögen, helfen, in ihren Bedürfnissen wahr genommen zu werden. Wir können versuchen, Gestaltungsformen zu entwickeln, die uns erahnen lassen, in welchen Zusammenhängen unsere Handlungen gesehen werden können, damit wir zumindest ansatzweise in die Lage versetzt werden, verantwortungsbewusst zu leben. Marilyn Monroe bringt es auf den Punkt: „Meine einzige Chance, jemand zu sein, ist doch, jemand anderes zu sein.“ Wir haben uns auf Bilder reduziert, die authentisch und somit echt, als ein Original frei von Schein, Täuschung und Fälschung erscheinen sollen und vertrauen dabei vorwiegend auf den wirkungsvollen Einsatz vorgefertigter Markenbilder. Deren Vielfalt und deren zahllose Kombinationsmöglichkeiten täuschen darüber hinweg, dass wir zunehmend verlernen, uns selbst eine Form zu geben. Das ist im Alleingang auch nicht möglich, denn Identität entwickelt sich aus Zuschreibungen. Nur im Spiegel der Anderen können wir unsere Wirkung erfahren. Wenn wir uns gegenseitig nichts weiter als vorproduzierte Klischees vorhalten, mutieren wir zu fremdprogrammierten Robotern. Oder wie Richard Sennett meint: „Die Unterschiede, Schwierigkeiten und Widersprüche, die ich in mir selbst (wie auch in anderen) wahrnehme, ermöglichen uns ein Miteinander. Wir sind verschieden, und wir sind innerlich gespalten. Also unterhalten wir uns!“ Eine möglichst differenzierte Entwicklung von Interessen und Talenten bereichert das kommunikative Vermögen einer Gesellschaft.
Alles braucht eine Form, aber nicht notwendigerweise ein Design. Mit Hilfe von Märkten haben wir uns vielfach ein angenehmes, reiches und bequemes Leben ermöglicht. Wir müssen jedoch auch erleben, dass jene Kommunikationsstrukturen, die sich über Märkte finanzieren und steuern lassen, uns nicht vor Krisen und tiefgreifenden Problemen bewahren. Medien sind Drogen. Mit ihrer Hilfe können wir unser Bewusstsein modellieren, uns betäuben, Emotionen und Erlebnisse provozieren, die uns sonst erspart bleiben. Wie bei allen Drogen, kann auch Medienkonsum Nebenwirkungen entfalten. „Realitätsverlust“ wäre in diesem Zusammenhang ein irreführender Begriff, da Medien in jeder Hinsicht Realitätserfahrung konstituieren. Wir sollten nach Kräften versuchen, ein Sterben der gedanklichen und somit auch formalen Artenvielfalt zu verhindern. Wir leben in einer interessanten Zeit. Viele Probleme warten auf eine Lösung. Viele Modelle scheinen nicht mehr zu funktionieren. Es ist Zeit, Neues zu probieren. Neues entsteht aus der Kombination von Unterschiedlichem. Turbulenz entwickelt sich durch die Reibungsflächen von Bewegungsströmen, die in unterschiedliche Richtung driften. Turbulenzen erlebbar und modifizierbar zu machen, war immer schon eine Gestaltungsoption, auf die wir in der Gegenwart allerdings mehr denn je angewiesen sind. Trotz endloser Glücksversprechen der allgegenwärtigen Marktkommunikation ist es gelungen, ein Weltbild entstehen zu lassen, das für unsere Kinder weniger hoffnungsfroh und zuversichtlich erscheint, als die Welt, in der wir gerade leben. Wir haben eine Verantwortung unseren Kindern und Nachfahren gegenüber. Wir müssen rechtzeitig eine Abzweigung aus der Einbahnstraße in den Abgrund einer allgemeinen Depression finden. Wir brauchen Träume und Alternativen, um das Bestehende zu überwinden oder zumindest zu erweitern. Wie können wir uns, von den Bildern, die uns bestimmen, befreien? Das ist für mich die zentrale gegenwärtige Gestaltungsfrage. Die speziellen Fähigkeiten professioneller Gestalterinnen und Gestalter, Ideen, Stimmungen, Emotionen zu verstehen und zu erspüren und in wahrnehmbare Formen zu übersetzen, kann wirksam helfen, Veränderungsprozesse zu fördern und zu begleiten.